Mittwoch, 30. Juli 2008

Kurzschluss II: "Just how far can I go"

[Nach Kurzschluss I nun die zweite Ausgabe. Diesmal sind Morbus, Nessy, Pulsiv, Patsy Jones, BastiH, Ally Klein sowie meine Person dabei. Das Thema ist einsam/Einsamkeit.
Viel Spaß beim Lesen der hoffentlich sehr vielseitigen Texte. Ich werde jetzt auch erstmal die Runde machen und mich durchlesen (Wahrscheinlich auch tierisch ärgern, dass ich nicht auf die Idee gekommen bin und dann nur so was geschrieben habe…)]

Im Traum lernte sie jemanden kennen, den sie mehr liebte als die eigene Person, mehr als das liebste was sie in der Welt im Wachen benennen konnte.
Das sagte sie, während ich ihren Rücken betrachtete und mich nicht wunderte, dass sie zu sprechen begonnen hatte ohne mich anzublicken.
Ich kannte sie nicht, sie stand einen Schritt vor mir unter dem Vordach neben dem Aschenbecher. Hier war die einzige Zone im Bahnhof in der man rauchen konnte. Wir waren in der Zone, vielleicht in dem Raum, wer weiß das schon?
Ihr tropfte Regenwasser aus dem langen Zopf auf die viel zu große Wachsjacke. Ihr Rücken erinnerte mich an meine eigene Gestalt, mein Zopf hatte sich ebenfalls mit Wasser voll gesogen. Vielleicht war sie blond, aber in der Dunkelheit und mit der Nässe wirkte alles schwarz, ihre Haut einzig blass und aufgeweicht. Doch jetzt sah ich nur ihren Nacken und hörte ihre mädchenhafte Stimme.
Ich wusste nicht ob sie zu mir sprach, vielleicht hörte ich ihr nur deswegen zu.
Ich ließ aber das Buch aufgeschlagen, ich hatte nicht nur wegen der Dämmerung die Zeilen auf den sich wellenden Blättern wieder und wieder gelesen:
Aus dem Lande der Menschenfresser. – In der Einsamkeit frißt sich der Einsame selbst auf, in der Vielsamkeit fressen ihn die vielen. Nun wähle.“[1]
„Ich versuche es seit Monaten, aber ich finde den Traum nicht mehr. Ich kann mich nicht zwingen ihn wieder zu träumen. Ich habe es versucht, mittags, am Morgen, in der Nacht. Mit Drogen, ohne… aber ich finde ihn nicht mehr.“
Sie nimmt einen Zug wirft dann mit einem Schnippen die Kippe in einen glühenden Bogen in den Graben der Gleise. Fast erwarte ich, dass sie ihr folgt, vielleicht als Wegweiser. Aber wir sind wohl schon da, denn sie bleibt.
„Beim Erwachen fühle ich dann nur dieses Versagen und spüre den Lauf einer Waffe an meinen Kopf, ich drücke immer ab. Mein Finger zögert nicht am Abzug. Ich mache das schon seit Jahren. Andere zählen Schafe, ich stelle mir eine Waffe vor, die ich mir an die Schläfe halte um dann abzudrücken. Doch erst seit dem Traum habe ich begonnen mit dieser Szene zu erwachen.“
Ich setze mich hinter sie auf einen der stählernen Sitzschalen. Von dem gläsernen Vordach tropft Wasser auf mich. Ich betrachte weiter ihren Nacken, der unter dem schweren Zopf in geschwungener Linie zerbrechlich wirkt, umso mehr da sie breite Schultern hat.
Auf dem gegenüberliegenden Gleis fuhr ein Zug ab, sie sah ihm nach, ich sah ein Stück ihres Profils. Sie hatte hohe Wangenknochen.
„Wo er wohl hinfährt?“
Sie blickt wieder geradeaus, der Zug war nicht mehr von Interesse.
„Ich stelle mir oft vor in einen Zug zu steigen, einfach los fahren. Die Richtung ist bedeutungslos. Hauptsache fort. Ich würde niemanden etwas sagen, ich würde nichts zu Ende gebracht haben. Das ist unwichtig. Menschen sehen sowieso nicht das hinter der Fassade was da ist. Und falls sie einen Blick darauf erhaschen sind sie enttäuscht.“
Ich blicke auf meine Beine, die ich übereinander geschlagen habe, oberhalb meines rechten Knies ist eine Laufmasche in der Strumpfhose. Mit dem Zeigefinger ziehe ich sie hoch und lausche ihren Worten. Die Laufmasche entblößt meine Haut und ich ziehe fließend und langsam über meinen Oberschenkel und schiebe dabei den Rock in Falten hoch zu meinem Schoß.
„Sie ertragen nicht den anderen in seinen Entscheidungen und mit seinem Makeln. Nein, genauer gesagt, sie ertragen bestimmte Makel nicht. Meine Familie ist mein Kryptonit. Sie liebt mich, aber sie schwächt mich. Ihr ist das gar nicht bewusst. Und eigentlich ist es nicht nur die Familie, es sind alle.“
Mir ist das zu popphilosophisch, vielleicht auch zu ehrlich, ich ziehe den Rock wieder herunter, fast bis zum Knie. Dann blicke ich sie wieder an, sehe, dass sie in ihren übergroßen Taschen kramt. Sie steckt sich eine weitere Zigarette an.
„Ich habe zu oft versucht auf mehrere Schiffe zu gehen. Denn Freundschaft, Lieben bedeutet für mich, mich ganz zu geben. Ein Problem wenn man zu viel liebt. Und zu viel, weil ich nicht ein Bis-dahin abstecken kann. Mich nehmen die Menschen immer ganz in Beschlag, ich habe nicht mehr die Kraft für etwas anderes. Ich lebe dann nur noch für sie. Gesteht man dann sein Unvermögen, seine Kraftlosigkeit ein, kommt die Enttäuschung der anderen. Und bei mir kommt die Enttäuschung, dass sie mich gar nicht liebten, sondern nur die Vorstellung die sie sich gebildet haben. Zusätzlich zu der Scham kraftlos zu sein.“
Sie nimmt einen Zug, lässt die Hand aber sofort sinken, der Arm versinkt in ihrer dunklen Silhouette, nur die Hand sticht mit der glimmenden Zigarette hervor.
„Und dann die Geheimnisse die sich ansammeln, die ohne Reiz sich einfach anhäufen, ungesagt bleiben müssen. Denn es gibt Geheimnisse, Entscheidungen mit denen andere nicht leben können. Man weiß selber, dass sie schlecht sind, dass sie alles andere als richtig sein sollten, aber sie gehören einfach zu dir, sind womöglich nötig damit du überhaupt funktionierst. Als Bulimiker lebt man total verborgen, von Anfang an. Wird ein Mensch annorektisch, dann bewundert man ihn gesellschaftlich am Anfang. Du bist so schlank und diszipliniert. Natürlich, gefährlicher. Eine Sucht die gesellschaftlich in ihren Anfängen akzeptiert wird. Das gleiche oft auch mit Hasch, Koks...Meine Sucht nicht, nur geflieste Räume kennen sie.“
Ich blicke auf meine Uhr am Handgelenk, am späten Abend fahren die Bahnen seltener.
„Zurückgezogen merkt man, wie vergesslich diese Welt ist. Dement. Ich bin längst kein Teil mehr von ihr und auch das ist schwer erträglich. Eine Zeit lang versuchte ich neue Menschen kennen zu lernen, zu lieben, aber mit der Ehrlichkeit meiner Konditionierung. Doch auch sie übermannten mich.“
Ohne Lesezeichen stecke ich das Buch in meine Tasche, schließe sie und stehe auf. Ich trete zu ihr und blicke ihr das erste Mal ins Gesicht. Mir ist nichts fremd und so gehe ich noch ein Stück näher heran. Sie weicht nicht aus, blickt mich direkt an. Unsere nassen Jacken berühren sich.
„Wünsch dir was“, fordere ich sie leise auf und küsse sie zum Abschied auf den Mund. Dann trete ich unter dem Vordach hervor in den Regen.

________________________

[1]Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe: Zweiter Band. Friedrich Nietzsche: Werke, S. 5056
(vgl. Nietzsche-W Bd. 1, S. 858) (c) C. Hanser Verlag
http://www.digitale-bibliothek.de/band31.htm

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