"Land aus Glas"
Alessandro Baricco kennt in Italien jeder und in Deutschland eigentlich auch, nicht nur weil sein Buch Seide mit Knightley verfilmt wurde, sondern weil er ein nicht zu vergessener Autor ist. Schlagworte wie „märchenhaft“ und „surreal“ fallen immer wieder in den Rezensionen und Bewertungen. Sicherlich durchaus treffend.
Land aus Glas, welcher im Original Castelli di rabbia (also wohl Burg aus Wut) heißt, ist eigentlich sein Debütroman, welcher hier aber erst als drittes Buch herauskam. Der deutsche Titel ist treffend und gut, denn immer wieder greift man den Faden des Titels wieder auf, versteht den Hintergrund und die wechselndeMetaphorik dahinter. Der italienische Titel ist sicherlich genauso vielschichtig, allerdings ist der Faden nicht so leicht aufzunehmen. Denn Wut und Gewalt schwelt zwar immer wieder zwischen den Zeilen, ist in der Geschichte verschlungen, tritt aber selten klar und deutlich vor einen. Dann allerdings mit voller Wucht. Das ist es auch, was es so märchenhaft macht. Baricco erschafft eine Welt, die extrem fiktional ist und dann immer wieder Anleihen aus der Realgeschichte nimmt, dass es einem genauso umhaut wie seine Schilderungen voller Liebe von Menschen, dass sie auch nicht davor Halt machen zu schildern, wie Menschen auch in ihren tiefsten Momenten sind. Wenn sie beispielsweise einen anderen den Schädel einschlagen und ihn vergewaltigen. Und das genau auch mit der Sprache, die in einem Märchen schildert, wie eine Frau dadurch bestraft wird, dass sie an einem doch so glücklichen Tag wie dem einer Hochzeit rotglühenden Schuhe anziehen und vor der Hochzeitgesellschaft tanzen muss. Es ist die Sprache, die einfach schildert, dass geschieht was geschehen muss (heimlich hoffe ich immer wieder, dass es nur das Gesetz des Märchens ist, nicht das des Lebens).
Barrico beschreibt anschaulich, ein weiterer Aspekt des Märchens. Schwierige, nicht fassbare Gedanken werden anschaulich beschrieben, abgearbeitet, untersucht. Eine Jacke kann für das Erwachsenwerden stehen, so wie ein Genius in der bildenden Kunst für einen abstrakten Gedanken dastehen kann.
Baricco greift drastisch zu Stilmitteln, so dass er eine poesievolle Sprache erschafft, manch einem geht sie mächtig auf die Nerven. Mich hat sie allerdings von Anfang an eingefangen. Er schafft wundervolle Figuren, die mit einfachen Mitteln zeigen, wie verschachtelt, eigen jeder Mensch ist. Und es ist auf jeder Seite voller Witz und abstruser, genialer Einfälle. Sei es die Schilderung der Wahrnehmung des autistisch wirkenden Mormys, Mr. Rails Vorstellung von Geschwindigkeit, die physischen Untersuchungen Pekischs im Bereich der Akustik oder die Versuche Pehnts die Welt zu begreifen, indem er jeden Tag eine Erkenntnis aufschreibt. Damit versucht er dem „zuviel Welt“ [1] entgegenzutreten. Und als erstes steht da „1. Die Dinge – sie aufschreiben um sie nicht zu vergessen.“[2]
Land aus Glas erscheint mir da auch wie ein wundervolles Memo an den Leser.
Es ist nicht nur das Einzelne, es ist das Ganze.
„Pehnt ist wunderlich“, sagten die Leute.
„Das Leben ist wunderlich“, sagte Pekisch.[3]
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[1] Baricco, Alessandro: Land aus Glas, aus dem Italienischen von Karin Krieger. München: dtv 2006, S. 46.
[2] Baricco 2006 : 47.
[3] Baricco 2006 : 47.
Stimmt,
Anyway, ich habe es vorgemerkt... Danke für den schönen Tip.
"the jacket" wäre mal als film zu empfehlen, fällt mir dabei ein. ("fluch der karibik eher nicht"... zumindest nur bedingt.)
Ich habe bisher Seide nur noch sonst gelesen, aber Ohne Blut, Novecento und Oceano Mare stehen auf jeden Fall auf meiner Liste.
Danke Dir für die ausführliche Beschreibung!
Und keine Angst vordem Zuwachs auf dem Bücherberg, dieses ist ganz einfach gelesen. Ich wollte es ganz langsam lesen, habe immer wieder zurückgeblättert, weil ich viele Stellen einfach nochmals lesen wollte, aber ab der Mitte war ich nicht mehr diszipliniert und habe es einfach durchgelesen.