Ich war sein Kassettenmädchen.
Alle paar Jahre telefonieren wir. Das fängt damit an, dass ich ihm eine Mail schreibe, entweder zum Geburtstag, zum Towel-Day, oder aber irgendein anderer Grund, und dann ruft er mich an. Nach zwei Stunden Telefonat stelle ich wieder fest, er ist mir nah und trotzdem ist er ein absolutes Arschloch. Ich habe schon in der ersten Klasse gegrübelt was es ist, dass ich ihn immer mag. Als ich von der Lehrerin in den Klassenraum geführt hatte, kroch er gerade unter den Tischen herum. Und gleich in der ersten Stunde erfuhr ich, dass sein Talent und vielleicht auch seine Leidenschaft der Mathematik galt. Er hatte eine ewig lange Rolle Papier, dicht mit Rechnungen beschrieben. Zusatzaufgaben, natürlich. Ich hindessen fing an zu zittern, wenn die Lehrerin mich wegen einer lächerlich einfachen Aufgabe aufrief, so dass ich kaum aufstehen und den Stuhl unter den Tisch schieben konnte (ja, wir standen auch auf wenn der Lehrer den Klassenraum betrat und begrüßten ihn, was ich nicht schlimm fand, nur dass wir denjenigen mit liebe/er ansprechen mussten… „Guten Morgen, lieber Herr…“ – „Guten Morgen liebe 1-12 Klasse“). Wenn heute irgendjemand eine Aufgabe im Alltag in den Raum stellt, fahre ich einfach mein Hirn herunter. Unglaublich… Dabei war ich in der Oberstufe dann in dem Fach ganz gut, nur um im Abitur daran fast zu scheitern.
Im Laufe der Jahre saß ich immer wieder neben ihm, ich sollte seinen wandernden Geist beruhigen. Während des Abiturs, lange gab es schon keine Sitzpläne mehr, nahm es aber solche Ausmaße an, dass ich mich von ihm fortsetzte, er lenkte mich ab. Jahre später rief er mich an und fragte mich, warum ich ihn verletzte. Und ich dachte, ich interpretiere zuviel…
Vielleicht ist es seine Erziehung, die extrem anthroposophisch, extrem alternativ, extrem in ihrer Haltung, in allem war, dass er immer schon das Materielle, das Geld liebte. Seine Art von Rebellion? So wie Calvin Fahrstuhlmusik hört um seine Eltern zu ärgern. Zuerst fing wahrscheinlich mit seiner Liebe zu Zahlen an, dann darin, dass er nicht sehr gut mit Menschen umgehen konnte, dass er es mochte Geld anzuhäufen. Ale wir beide im Musikraum nebeneinander saßen und der Sopran die Stimme übte, las ich Gedichte und er Börsenberichte. Er machte sein Geld mit Aktien, seine Mutter investierte mit seinem Geld in Tee, und ich am Tresen des elterlichen Restaurants.
Und weil wir uns schon kannten, als wir noch Kinder waren, gab es nie den richtigen Augenblick. Und immer sprach der eine nur, wenn er sich sicher war, dass es gerade nicht passte.
„Wenn ich niemand anderen habe“, wieder in einer Musikstunde, er hielt meine Hand, natürlich zufällig, „und du auch nicht, dann tun wir uns zusammen. Du bist moralisch und nett und so eben. Du bist einfach das was ich nicht bin.“ – Lachen. „In Ordnung.“ „Du sorgst auf deine Art für mich und ich für dich.. Also abgemacht, ich melde mich, wenn es dann eintreffen sollte wenn wir 30 sind.“
Aber wir mochten uns natürlich nicht wegen der Mathematik, sicherlich nicht. Er liebte dann doch die Musik. Und weil Kassetten bei uns zwar noch gehört wurden, aber durchaus schon am Aussterben waren, stellte er mir CD’s zusammen. Ich leihte ihn „Einen Amerikaner in Paris“ und meine Miles Davis Platten (die jetzt mein Bruder hat). Und am „Bunten Abend“ musste ich lachen, als er nur mit seiner Mutter und mir tanzte. „Nee klar.“ Damit rette er mich vor einem nochmaligen Tangoangriff eines dicklichen, stark feucht lispelnden Mathematiklehrers. Ich bin froh, dass ich jetzt gar keine Tanzschritte mehr kann. Die Erinnerung an damals reicht fürs Leben.
Ich mochte es mit ihm zu reden, obwohl wir häufig anderer Meinung waren, aber weil wir uns schon lange kannten mochte ich auch das Schweigen, weshalb ich es auch besonders gerne mochte, wenn er mich mit seinem Motorrad nach Hause brachte. Eine halbe Stunde Nähe und sich jemanden anvertrauen, danach nur ein „Bis Morgen.“
Vielleicht waren wir Freunde.