Donnerstag, 4. Januar 2007

Winterreise. Zweiter Teil

Im Norden habe ich immer Hunger. Vielleicht liegt das an der Luft, vielleicht weil meine Mutter so begehrenswerte Nahrungsmittel in ihren Schränken aufbewahrt, vielleicht weil ich weiß, dass ich mich im Norden wie ein Schmarotzer satt essen kann ohne zu zahlen. Mehr gesagt ich muss mit Aufmerksamkeit zahlen, mit Anpassungsfähigkeit. Der Platz des Querdenkers ist schon vergeben, ich bin ein blondiertes Schaf… naja, ich bin auch nie ein schwarzes Schaf gewesen… eher ein weißes, welches etwas neben der Herde stand, wenn überhaupt. Im Norden denke ich also an Essen und an meine Liste. Ich habe eine Liste im Kopf, die sich im Laufe eines halbe Jahres, oder Jahres in meinen Kopf schreibt. Angekommen versuche ich sie ab zu arbeiten. Unauffällig, denn man soll ja nicht so eine Hektik betreiben, es soll ja alles hübsch gemütlich sein. 1. war der Wunsch geäußert worden Zimtsterne zu backen, 2. die neuen Gläser bewundern, 3. nicht mit dem Bruder Streitdiskussionen über verantwortungsloses Geldausgeben starten, 4. sich um den Bruder kümmern, 5. an 3. denken, 6. meinen Bruder versuchen klar zu machen, dass er bis Januar noch ganz viel Geld sparen muss für seine Jahresabrechnung (6.1. dabei die eigene Meinung einfach vergessen), dabei an 3. denken. 7. meiner Mutter irgendetwas am Rechner zeigen, 8. sie wieder zu überzeugen, dass die Telekom ihr nur verdammte Scheiße verkaufen will, 9. mein Stiefvater nicht vergessen, 10. mal mit meinen Pflegebruder kuscheln, und 11. dabei nicht vergessen über die Schule zu reden, 12. in seine Lateinhefte rübergucken damit ich meiner Mutter erläuternde Erklärungen abgeben kann, 13. die Kuschelecke meiner Pflegeschwester malen, 14. meine Mutter dabei erinnern, dass sie die Farbe kaufen muss. 15. keine Hektik betreiben! 16. meinen Bruder nicht umbringen. 17. Massenmassaker ausführen. 17. meine Mutter nicht zum Weinen bringen. 18. den Vokabeltrainer meines Pflegebruders in Ordnung bringen, 19. für mehr Liebe auf der Welt einstehen, 20. sich selbst zurück nehmen, 21. sich selbst einfach irgendwo verstecken, 22. 17. streichen, klappt sowieso nicht, ein Punkt einfach nur zum Scheitern. 23. daran denken vor der Familie den Fanatiker zu bedienen und 24. einfach keine Diskussion darüber anfangen. Schließlich willst du ja nicht als herrisch beschrieben werden. 25. ruhig atmen, wenn der Bruder sagt, dass man offensichtlich gerne bei der Familie das Heimchen spielt. 26. ich bring sie einfach alle um. 27. wirklich mal zu Hause bleiben, das Essen kriege ich selber genauso hin. 28. nicht Verzweifeln, dass gerade die Sachen nicht funktionieren, die man unbedingt machen wollte. 29. die Ohren vom Hund kraueln, der lebt vielleicht nicht mehr lange. 30. die Kleine meiner Mutter abnehmen, 31. Wind in den Weiden vorlesen, 32. Spiele spielen und dabei verlieren können. 33. ignorieren, dass meine Familie überzeugt ist mich zu kennen dabei aber enttäuscht ist, wenn ich doch nicht so bin. 34. danken, dass man nach München gezogen ist, 35. mit meinem Stiefvater sprechen, 36. mal wieder die Finger auf die Flügeltasten legen, 37. trotz Familie lernen! 38. ruhig bleiben weil 37. nicht aufgeht. 39. das Thema Kinder umgehen (klappt sowieso nicht), 40. alle lieb haben, obwohl sie einen vor allem die eigenen Schlechtigkeiten aufzeigen.
Ach ich habe Hunger, ich habe so viel Hunger.

Winterreise. Erster Teil

Ein einfach fremdes Zimmer, zwar bekannt und aus einem leicht warm pustenden Notebook singt John von Erdbeerfeldern. Tja John, du lebst auch nicht mehr. Du wurdest zwar nicht mit einem eingefrorenen T-Shirt erschlagen, aber der Todesgrund klingt eigentlich ähnlich lächerlich. Irgendwie kann ja alles Mögliche lächerlich klingen. In diesem Zimmer war ich schon ziemlich glücklich, irgendwas war draußen und wir waren drin. Was kümmern mich die Monster unter dem Bett wenn ich darüber bin?

...I’m not half the man I used to be…

Draußen herrscht ein Grau, welches man in warmen Zeiten eigentlich nur auf Bildern für möglich hält, satt, dumpf und tief. Und hier beleuchtet ein noch einzelner Strahler weich die hässlichen apricofarbenen Wände. Vielleicht habe ich dich schon gehasst, aber ich fühle gelbes Glück in mich aufsteigen, dass ich dich nie verachten musste. So fällt es leichter zu lieben.

...Oh I believe in yesterday...

Und wie der Erzähler in Tynset in der Zeit hängt, einzig für seine selbstgesponnene Geschichte lebt und ansonsten schläft, so sitze ich hier und schnüre den Kokon fest um mich, harre aus. Einige Schäden musste ich im Schnee mühsam ausbessern, denn neugierige, unbewusst grausame Hände zerrten und rissen an der trockenen, brüchigen Oberfläche. Außen ist alles graubraun und vertrocknet, aber tief fließt es ständig, schlägt ein Herz, pumpt Blut und Saft. Faber ekelte sich vor dem Kreislauf des Lebens, ich bin nur erstaunt wie lange er andauert. Unheimliches Durchhaltevermögen.

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