Der Riese und die Erinnerung
Manches vom matten Grün war noch von einzelnen Schneeflecken bedeckt und die beiden saßen auf seiner riesigen Wachsjacke unter einem kahlen Baum. Er hatte seinen mächtigen Arm um sie gelegt, damit sie nicht von der Jacke auf den moosigen, voll gesogenen Rasen rutschte. Kurz hatte sie die Augen geschlossen, als sie tief einatmete und ihm sagte, „Du riechst nach Schafswolle. Ich würde diesen Geruch immer wieder erkennen.“
Und dann strich sie über seinen Zopfmusterpullover.
„Außer dem Scheren habe ich schon so ziemlich alles mit Schafswolle gemacht. Das Waschen ist das ekligste, sie ist wirklich dreckig und danach kriegst Du das ganze Schafsfett nicht mehr von Dir runter. Und dann riechst du nicht nur nach Schaf sondern stinkst. Am liebsten habe ich immer Gesponnen, da ist nicht viel Aufmerksamkeit gefragt, nur Gefühl und Rhythmus.“
Während sie weiter erzählte blickte er auf sie von weit oben herab. Er sah ihren unregelmäßigen Scheitel und das feine Haar, welches genau die gleiche Farbe hatte wie das schwache Sonnenlicht. Es war sanft.
In Gedanken sagte er zu ihr: ‚Wenn Du mich verlässt, dann schenke mir zum Abschied einen Unterrock von Dir. Ich könnte es nicht ertragen nichts von Dir zu haben. Ich möchte etwas was nur Dir gehören kann. Was nicht in meinen Besitz übergehen kann, in meinen Nutzen. Ich will immer wissen können, dass es dich gegeben hat.’
Dann schwiegen sie und er wischte sich nur einmal einen Tropfen von der Nase, der bei einem leichten Windzug vom Baum über ihnen gefallen war.
„Sollen wir über das Wetter reden?“
„Nicht nötig, das Schweigen ist nicht unangenehm.“
„Stimmt, ich bin froh, dass Du mich an der Kasse angesprochen hast.“
„Du hast Kakao im Tetrapack gekauft“, erklärte er sich. Sie lachte.
Es ist wie früher auf dem Pausenhof, entweder Kakao oder Vanillemilch. 30 Pfennig das Kakaopäckchen und 50 Pfennig die Vanillemilch, im Winter wurden sie erwärmt.
„Was hast du gemacht, in dem Jahr, als ich Spinnen und Weben lernte?“
Er überlegte und schließlich: „Ich war Richard-Ashcroft-Double.“
Sie blickte zu ihm auf, „Richard Ashcroft ist aber nicht so groß.“
„Ja, ich wurde auch nur zweimal eingesetzt. In dem einen Video, ich habe eine riesige, hässliche weiße Sonnenbrille auf. Weil ich angeblich nicht seinen Blick habe.“
„Zeig mal!“
„Wie?“
„Guck mal und tue so, als wärest du Ashcroft.“
Er setzte sich cool hin und stützte seine Handgelenke lässig auf die angewinkelten Beine. Sie stand dabei auf und guckte von der Seite, dann kniete sie sich zwischen seine Beine und guckte ihn direkt in das Gesicht, skeptisch.
„Ja, ich sehe das Problem.“
„Was denn?“
„Du hast zu liebe Augen, da fehlt irgendwie die Aggressivität.“
„Ich hoffte das durch eine Lederjacke auszugleichen...?“
„Nein“, meinte sie dann nur entschieden.
„Du hast keine rissige Hornhaut auf der Seele und du bist etwa doppelt zu groß.“
Er zog sie in seine schafswollene Umarmung und drückte sein Gesicht in ihr Haar. Er fühlte ihr Lachen an seiner Schulter, dann legte sie ihre Hände auf seine Schulter, strich wieder über das Zopfmuster. Spielte alsbald mit seinem Ohr, strich über die Rundung, die von dem braunen Locken verdeckt wurde und befühlte die weichte Haut des Ohrläppchens.
„Als Kind trug meine Mutter immer Perlenstecker. Wenn sie mich umarmte spielte ich daran. Sie ließ es nie lange zu.“