Samstag, 21. April 2007

Gedanken und Gelaber

Während ich die Zeitungen durchstöbere und ordentlich mit Papier um mich werfe lamentiere ich mit Uwe Schmitt:
„Mensch Uwe, ich darf dich doch duzen, hier in meinem Zimmer? Also Uwe, was soll das? Ist doch total überflüssig festzustellen, dass der Amokläufer (und das ist an sich ja schon eine falsche Bezeichnung, denn der Typ ist ja nicht spontan in Raserei verfallen. Es gibt für ihn einen bestimmt Ausdruck, leider mir entfallen und leider von den Medien nicht benutzt. Ich glaube Schoolshooting ist das Stichwort...) sich untypisch für einen Asiaten im amerikanischen Schulsystem benommen hat. Ja, die sind sicher nicht aggressiv, sondern eher Streber vor dem Herren; aber auch alle bisherigen „Amokläufer“ passen nicht unbedingt in die Statistik, der Durchschnitts-Amerikaner-Schüler läuft ja auch nicht mit seinen vollautomatischen Waffen über den Pausenhof oder seinen Campus und knallt seine Kommilitonen oder Mitschüler über den Haufen. Es gibt überhaupt keine Personengruppe, die dazu neigt in großer Regelmäßigkeit andere Menschen zu töten.“
Hinter mir stellt sich das Tippen der Tastatur ein und bevor ich noch hinter den Papierbergen aufblicken kann meint sjÁlfur:
„Na ja, Nazis nä.“

tinius - 21. Apr, 22:46

Mir wären da auch ein paar Gruppierungen eingefallen und die Nazis nicht an letzter Stelle. Soldaten, ganz allgemein, amerikanische im Besonderen, Diktatoren und deren Schergen - von Putin bis zu Saddam.
Ich denke, das Problem ist zum einen die Gesellschaft und deren Integrationsfähigkeit unter den verschärften Bedingungen des Wettbewerbs und generell eine immer heftiger werdende Individualisierung durch Erziehung und gesellschaftliche Entwicklungen. Mit Rasse oder Nationalität hat das alles nur wenig zu tun, wie man an Erfurt und Emsdetten sehen konnte. Aber in Amerika ist es mit der sehr laxen Waffengesetzgebung nur ein bisserl einfacher, größtmöglichen Schaden anzurichten. Und hier - das bemerkt die Gewerkschaft der Polizei richtig - ist die Kontrolle der legalen Waffen unzureichend, die Bekämpfung des illegalen Waffenhandels erst recht. Ich denk, selbst ich könnte herausbekommen, wo in B. ich so ein Teil herbekomme.
Begrifflichkeit : Keines der bislang bekannten "shootings" erfüllt die Definition eines Amoklaufs. Im Moment fiele mir nur der 16jährige am Berliner Hauptbahnhof ein, und der war abgefüllt bis unter die Kiemen. LG tinius

AiHua - 21. Apr, 22:55

Passt doch, schließlich nahm man lange an, dass Amokläufe nur unter Drogeneinfluss zustande kämen...
Seether - 22. Apr, 18:53

Ja, leider wird der Begriff "Amoklauf" im Moment ein bisschen inflationär benutzt. Macht man nichts. Und wäre auch nicht der erste Begriff, der einen Wandel seiner Bedeutung durchgemacht hätte...

Ein Detail das gerne übersehen wird: Amerika ist groß! Sehr groß! Mit einer unvorstellbaren Dichte an verschiedenen Kulturen und Einflüssen. Also steht dir Wahrscheinlichkeit für solch eine Tat dort auch unabhängig vom Schusswaffengesetzt wesentlich besser.

Aber die beiden Jungs aus Littleton waren doch schon ziemlich dicht beim Profil des gestörten, Computerspielenden Cracks ohne soziale Kontakte und mit einem Hang zu Schusswaffen, oder?!

Personengruppen würden mir da auch noch ein paar einfallen. Soldaten zum Beispiel. Angehörige von schwerkriminellen Gruppen... Und so weiter...

tinius - 22. Apr, 20:13

Der Fachbegriff für viele der Taten lautet : "spree killings". LG tinius

To01 - 23. Apr, 13:41

was nutzt da statistik? mensch, uwe!

sjAlfur - 23. Apr, 14:26

ach naja... nicht dass ich das schön reden will, aber rechnet man die Anzahl von Gewaltopfer pro Kopf auf die Weltbevölkerung und berücksichtigt dabei Gesellschaftsentwicklungsgeschwindigkeit und Lebensraumfläche pro Kopf, dürfte der Wert kaum ansteigen über die Jahre.
Mit der Gesellschaftsentwicklung geht nämlich auch eine Segmentierung einher, die dafür sorgt, dass man moderne Möglichkeiten von Gewaltausübung und deren individuelle Auswirkung in Relation zur Gruppierung sehen muss.

Soll heißen: hätte Cäsar seinen Jungs damals Sprengstoffgürtel und Saringranaten geben können, hätte Asterix niemals das Licht der Welt erblickt. Hätte Goebbels das Internet für seine Propaganda nutzen können, wäre es wohl weitaus schwerer gewesen, den Traum von Germania auszulöschen.

Das Erschreckende ist doch vor allem, dass mit jeder Möglichkeit, alte Gewalt einzudämmen, neue Formen von Gewalt möglich werden. Durch das weltweite Bestreben möglichst alle Nationen unter ein Dach zu kriegen - sowohl in Friedensangelegenheiten, was ich persönlich ganz toll finde, aber auch in Sachen Kultur und Wirtschaft, was nach hinten los geht - schafft man den Nährboden für Terrorismus. Ohne Globalismus wäre der in der Form gar nicht möglich...

Würden wir den Gedanken nie gehabt haben, würden sich heute vielleicht wie Jahrhunderte zuvor Nachbarländer gegenseitig den Kopf einschlagen, ohne UN, die das aufs Schärfste verurteilt.

Würde man nicht irgendwann beschlossen haben, dass territoriale Ansprüche kein Grund sein dürfen, einen Krieg anzufangen (und das im internationalen Konsens als Standard durchzupauken), bräuchte man heute keine Strohpuppen wie Leitkultur und Nationalstaatsgedanke...

Das ist im Grunde genommen so, als würde man Robertson und Huntington in einen kleinen raum sperren und diskutieren lassen. Und was würde - vermutlich - raus kommen: Die Diskussion dreht sich im Kreis.

Alle wollen Fortschritt (ohne den wäre es auch irgendwie sinnlos...), aber kaum jemand kann doch wirklich damit umgehen. Und einige wollen den Rückschritt (Zivilisationsausstieger, Eremiten, was weiß ich...), und können das auch nur als individuellen Fortschritt in Form einer Abgrenzung.

Wie gesagft, es ist ja schlimm, dass sowas passiert, und es sollten auch Lehren daraus gezogen werden, aber ich denke, dass sowas passiert liegt ein Stück weit in der Natur des Menschen. Jede Form von Maßnahme würde wieder in einer neuen Art von Reaktion enden. Würde man auf Wunsch der Waffenlobby jedem erlauben, eine Knarre mit sich rum zu tragen, hätte das genauso Folgen, wie ein komplettes Verbot aller Waffen... diese Leute würden sich andere Wege suchen, denn ich denke nicht, dass die durch liberale Waffengesetze zu sowas angestiftet werden...

Nicht dass das falsch verstanden wird, ich bin auch für eine Änderung des Umgangs mit Waffen, aber ich denke, es muss vor allem etwas angesprochen werden, was über Gesetze hinaus geht...

T. Aschenlampe - 26. Apr, 01:13

Ich denke, dass man der Frage, warum Menschen Gewalt ausüben, nur schwerlich beantworten kann, ohne sich zu fragen, von wem, gegen wen und wie Gewalt ausgeübt wird und dabei nach Analogien zu suchen. Ein Amokläufer interagiert ja auf eine ziemlich heftige Weise - und man kann vermuten, dass er letzendlich reagiert. Das zeigen zumindest die Vorgeschichten diverser Amokläufe - auch Georg Stefan Trollers Essay am letzten Montag Abend auf Phönix. Der von Troller dokumentierte Fall handelt von Wayne Lo, einem US-Amerikaner taiwanesischer Abstammung, der 1992 wahllos auf dem Campusgelände des Simon's Rock Colleges in Massachusetts herumschoss. (Der hatte damals noch gar nicht die Gelegenheit, am Computer Gewalttaten präparierend zu simulieren.) Der hatte plötzlich den Einfall, die Offenbarung des Johannes zu auszuführen. (Kein Mensch käme übrigens deshalb auf die Idee, die Bibel zu verbieten.) Wayne Lo, der ausnahmsweise weder sich selbst erschoss noch erschossen wurde, kann sich seine Tat nicht selbst erklären. Doch wenn man nach Analogien sucht, dann kann man schon feststellen, dass das Zusammentreffen von Wahn und moralischer Rigorosität auffällig häufig ist. Also eine gewisse Form des Terrorismus, die hier eben punktuell, individualistisch auftaucht. Auffallend auch, dass Amokläufer während ihrer Exekutionen von einer uns befremdend erscheinenden Ruhe erfüllt sind - es geht dabei also nicht um einen emotional aufgeladenen Blutrausch, wie man gerne unterstellt, sondern um die sachgemäße Ausführung eines Auftrags. (Macht das sachgemäße Ausführung von Aufträgen verdächtig? Könnte sein…) Jedenfalls sind die Opfer von Amokläufern immer die "Normalen", also wir alle, die das Alltagsleben ausführen. Und gegen diese Normalität scheinen sie Amok zu laufen. Sie empfinden das normale Leben nicht als normal. (Man könnte also auch das normale, kleinklein Leben aufzulösen versuchen, um Amokläufe zu verhindern - hört sich absurd an, aber ist eine Möglichkeit.) Vielleicht sollte man viel hellhöriger in diese Geschichten hineinlauschen, um einen Sound wahrzunehmen, der nicht folgenloses Entsetzen verlangt, sondern radikale Veränderung.

sjAlfur - 26. Apr, 19:44

du solltest diesen kommentar einrahmen und an alle schicken, die die öffentliche meinung prägen. das wäre mal eine sinnvolle herangehensweise darüber zu diskutieren... meiner meinung nach. (vielleicht fehlt dem zur bühnentauglichkeit die polemik, aber für was hat man die medien...)

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