Chichester Psalms
„Diese Psalmen sind einfach
– bescheidene Lieder,
tonal und melodisch,
beinahe bieder,
für aufrechte John Cager garantierte Tortur,
mit Tonika und Dreiklang in simplem Es-Dur“
Eigentlich eine heftige Untertreibung in Dichtform vom Komponisten Leonard Bernstein selber. Denn die Suite ist alles andere als einfach in der Komposition und höchst anstrengend für die Musiker. Irreguläre Taktwechsel (z.B. 10/4, 7/4) und eine höchst anstrengende Stimme für die Tenorstimme im Chor lassen die Suite nicht einfach zu einem bescheidenen Liedchen werden.
Aber vielleicht hat der ein oder andere an seine Musikstunden gedacht. Ich weiß jedenfalls noch genau, wie mein Musiktheorielehrer die berühmten Takte der Westside Story klopfte und wir sie aufschreiben mussten. Nur eine in der Klasse setzen den Wechsel ein, wir anderen quälten uns mit den Pausen ab…
Wenn man also an die Westside Story denkt, dann weiß man vielleicht, dass diese Oper eher als Musical am Broadway bekannt geworden ist. Leonard Bernstein verband vollkommen unbekümmert Musical mit so genannter „ernster Musik“, ließ in seine symphonische Musik Jazz und südamerikanische Folklore einfließen und hatte damit auch viel Erfolg, allerdings auch ebenso viele Gegner. Andere Dirigenten weigerten sich seine Musik zu spielen, weil er Populärmusik machte, völlig unzeitgemäß der Tonalität nachging… böswillig also Kitsch, abgeschmackter, leerer Pop, nur gut anscheinend für die Masse.
Und über Chichester Psalms sagt er dann auch selber:
„[Es ist] vielleicht die tonalste Partitur, die ich je geschrieben habe.“
Anbetracht der Zeitumstände verrät das eingangs zitierte Gedichtchen seinen Sinn.
Aber Bernstein war ansonsten überhaupt nicht bescheiden, tritt er doch nicht nur für die tonale Musik, sondern auch für den Jazz und die populäre Musik mit den Worten ein:
„Ich bin nicht einverstanden, wenn die populäre Musik als Ganzes auf eine niedrigere Stufe gestellt wird: Eine Symphonie ist nicht besser als ein gutes Lied, nur weil sie eine Symphonie ist!“
(Wer jetzt noch anführen möchte, dass er sich gar nicht gegen die Wiederholung –das was ja meistens als Kitsch als verbraucht angeprangert wird- wendet, erscheint für jemanden, der sich in der Musikgeschichte, eigentlich der Geschichte der gesamten Künste etwas auskennt wohl zu trivial, um zu erwähnen, dass das totaler Schwachsinn ist.)
Chichester Psalms war eine Auftragsarbeit zu dem Chichester Musikfestival 1965, bei der ausdrücklich die Anleihen aus der Populärmusik gewünscht wurden. Und tatsächlich ist ihm das in der Vertonung der Psalme geglückt. Der Bischof von Chichester gab nach der Uraufführung beispielsweise an, er habe förmlich „David vor der Bundeslade tanzen sehen“.
Ich bin umso glücklicher, dass diese Auftragsarbeit mit diesem Wunsch vergeben wurde, denn das Thema, welches die Knabenstimme im zweiten Satz einführt stammt aus einer nicht verwendeten Komposition zu einem nie vollendeten Musical. Es ist eine der schönsten Melodien, die ich je gehört habe. Und das Thema der Männerchorstimme (ich weiß, er mochte lieber die Version mit dem ausschließlichen Männerchor, ich beziehe mich aber auf die mit dem gemischten Chor) stammt aus einer nicht verwendeten Passage aus der Westside Story.
Gesteigert wird diese emotional hochaufgeladene Melodik noch durch die dissonanten, sehr aggressiven Motiven, entweder im Wechsel oder ineinander anklingend.
Zu der Westside Story habe ich ein gespaltenes Verhältnis (nicht nur wegen der Musiktheoriestunden), aber Chichester Psalms ist für mich regelrecht süchtig machend. Und ich bin nur allzu gern bereit zuzugeben, dass ich der Populärmusik sehr zugeneigt bin.