Sonntag, 16. September 2007

entartet

Alles hängt sich an diesem Wort auf. Für mich eher eine Enttäuschung. Das man über diese unsägliche Rede in den Medien berichtet, eine Diskussion aufkommt, finde ich wünschenswert, dass man sich allerdings nur über Nazivokabular aufregt finde ich traurig.
Streichen wir das mit der „entarteten Kunst“ hat er etwas gesagt, was verständlich für einen aus dem Metier Religion ist, was aber in letzter Zeit insgesamt viel Gewicht beigemessen wurde. Sei es die Wertedebatte oder aber die Panik vor der Islamisierung.
Hat sich doch der Erzbischof dafür ausgesprochen, dass Kunst nur gute Kunst sei, wenn sie religiös (also christlich in diesem Falle) sei, also zur Anbetung diene. Später versucht er es zu erklären und meint, dass er doch nur sagen wollte, dass Kunst und Kultur zwingend zusammen gehöre. Der geneigte Leser und Beobachter der Sache wird gemerkt haben, dass er Religion und Kultur damit gleichgesetzt hat. Wie gesagt, für einen Kleriker verständlich, dass er damit aber ziemlich überkommen ist, scheint erstmal klar, aber hätte er das kleine Wort „entartet“ nicht gebraucht, hätten womöglich einige ihm zugestimmt. Denn schließlich forderten und fordern einige, dass doch unsere Kultur die Christliche sei unsere Moralvorstellungen sich allein auf das Christentum stützen würde. Und somit unsere Kultur durch den Islam bedroht sei.
Bei diesen Diskussionen habe ich mich schon immer gefragt, ob die Leute eigentlich unser Grundgesetz, unsere Verfassung, die Statuten unserer Republik eigentlich wirklich verinnerlicht haben. Denn schließlich ist jedem seine Religion freigestellt und auch schon mal unsere Politik sollte frei von der Religion sein.
Aber im Zuge dieser Diskussionen fühlte sich vielleicht die Kirche erstarkt, vielleicht aber auch nur in die Enge getrieben, so dass sie sich mal wieder vorwagt, es gibt ja auch einige Äußerungen vom Papst (ihr wisst schon, der Typ, der letztens in Österreich im Regen stand).
Ich würde mir bei einer Diskussion über diese dumme Rede lieber wünschen, dass man feststellt was die Kirche derzeit versucht, dass womöglich einige Denkanstöße geliefert werden was eigentlich Kultur ist und ob in unserer Kultur eigentlich Religion zwingend mit Kultur gleichzusetzen ist und ob in dieser Gleichsetzung nicht eine wirklich fürchterliche Bedrohung unserer eigentlich heutigen Kultur liegt.
Aber leider schallt einem nur die Klage über das „Naziwort“ entgegen. Und dabei fordern manche den Rücktritt des Herrn. Er sei nicht tragbar sagen Stimmen aus der Politik. Würden das Stimmen aus der Kirche sagen (welcher auch immer, bestenfalls aber die Katholische), so aber geben Politiker einem Kardinal politische Macht, die er eigentlich nicht haben sollte.

toxea - 16. Sep, 15:23

Die

völlige Trennung von Staat und Kirche wäre wünschenswert, ist aber wohl unmöglich.... die derzeitige Verunsicherung führt sogar zu verstärkten Einfluss der Religion, die vermeintliches Orientierungswissen anbietet. Das größte Problem stellt der Wahrheitsanspruch der Religionen dar, dabei sind sie imho bloße Konstrukte...

sjAlfur - 16. Sep, 16:04

Ich glaube aber, dass diese Rede ebenso wie die Kirche an sich kaum noch wirklichen Einfluss hat. Dass der Einfluss gerade der katholischen Kirche in Deutschland seit bayrischem Papst und bekennender Volkszeitung wieder steigen soll, hält sich auch nur aufrecht, wenn man dem, was die Medien daraus machen, glauben will. Die Kirchengemeinde schrumpft trotzdem, egal was Bild oder Feuilleton schreiben...

Das Problem ist, dass hierzulande - und damit hat Kardinal Meisner vielleicht sogar unfreiwillig Recht - kaum noch jemand der Religion als Glaubensweg nachgeht, sondern diese nur noch als Ankerpunkt der eigenen Kultur sieht. Und ehrlich gesagt lässt sich das ja auch nicht wirklich trennen, Kultur ist von Religion beeinflusst und meiner Meinung nach ist Religion im Alltag auch wesentlich mehr Kultur als Glaube.

Was der Kardinal also streng genommen gesagt hat ist, dass er Kunst/Kultur nur dann gutheißt, wenn sie mit dem - seiner Meinung nach wahren - Glauben in Verbindung steht. Und das ist ja nun keine bahnbrechend neue Auffassung der Kirche... Und es hätte auch niemanden interessiert, wenn er nicht dummerweise auf dem Wort "entartet" ausgerutscht ist. Unglückliche Wortwahl, klar, aber in Deutschland neigt man ja dazu, bei solchen Reizworten jeglichen Verstand auszuschalten und blindlings "Nazi!" zu schreien...

Der Kardinal gehört einer Vereinigung an, die (laut Statistik) ein Drittel der deutschen Bevölkerung präsentiert, und die zwangsweise seine Meinung teilen muss (ohne das Wort "entartet"), denn das ist das, was die römisch-katholische Kirche lehrt, und was diese lehrt, muss man als Katholik anerkennen (um einen Pfarrer zu zitieren: "Wenn man einen Stein aus dem Glaubensgebäude zieht, stürzt es gleich ganz ein."). Was da so aufgeregt diskutiert wird, ist nur eine Erinnerung der Gemeinde gewesen. Die Meinung kann man teilen, oder man lässt es und ist nicht Teil dieser Kirche...

Dass man in den Medien verstärkt auf die genaue (Wechsel-)Wirkung von Religion auf die Kultur eingehen sollte, ist eine ganz andere Sache. Das sehe ich auch so, aber dafür braucht es nicht die verunglückte Wortwahl eines Kardinals...
AiHua - 18. Sep, 10:51

bei näherem Nachdenken meine ich auch, dass Du da Recht hast. Es ist nicht die Kirche, die mehr Macht bekommt, sondern andere versuchen ihre eine Macht zuzusprechen und andere springen auf dem Zug auch. Auch die Kirche, die ihre vielleicht letzte Chance sieht in Mitteleuropa.
tinius - 16. Sep, 16:28

Mit Sicherheit gehört jegliche Religion zur Kultur. Und jegliche meint im Sinne der Verfassung die, deren Anhänger in der Kultur zu finden sind. Das heißt dann in der Weiterung, daß es einen Alleinvertretungsanspruch in einer pluralistischen, mit dem Grundrecht der freien Religionsausübung versehenen Kultur nicht geben kann und darf. Allerdings geht er damit keineswegs über die altbekannten Dogmen der katholischen Kirche hinaus, definiert sie sich doch seit Anbeginn als alleinige Inhaberin einer verbindlichen Wahrheit. Das wirklich Neue - und damit auch das Problem - ist, daß Kirche (oder besser : ein Kirchenvertreter) es wagt, Kunst vorzuschreiben, wie sie zu auszusehen habe (nämlich gegenständlich), andere Gestaltungen schlicht einer anderen Kultur zuschreibt und die Einflüsse anderer Kulturen (man bedenke : in einer globalisierten Welt) als Entartung definiert. und dann noch historisch - kulturell irrt, denn in der christlichen Kultur gibt es - folgt man der Bibel - ein Bildnis - Verbot ebenso wie im Islam. Kulturhistorisch wage ich zudem zu bezweifeln, daß abstrakte oder nicht gegenständliche Kunst in Mitteleuropa sehr viel mit den arabesken Gestaltungsprinzipien in islamischen Ländern zu tun hat.
Insofern ist vor allem der Begriff der "Entartung" politisch angreifbar und in Sinn und Gebrauch nicht tolerabel. Und im Sinne der Kunstfreiheit muß zudem der angemaßten Definitionsmacht der katholischen Kirche über die Gestaltungsprinzipien der Kunst vehement widersprochen werden. Welche anderen Hoffnungen und Illusionen sich die Vertreter einer Minderheitenveranstaltung in einer zunehmend säkularisierten und vor allem sich von den kirchlichen Instituttionen loslösenden Welt machen, ist m.E. relativ uninteressant. Und man darf zudem noch anfügen, daß es im konkreten Fall ja durchaus katholische Gegenmeinungen gegeben haben muß, denn ein Richter - Bild in einer (bedeutenden) Kirche könnte es ohne Zustimmung der zuständigen Kirchenleitung überhaupt nicht geben.

sjAlfur - 16. Sep, 17:07

Dass es wirklich etwas neues ist, dass die Kirche der Kunst die Erscheinungsform vorschreiben will, wage ich zu bezweifeln. Aber darum geht es letztlich nicht. Was der Kardinal hier gesagt hat, ist etwas, was nach seiner Ansicht dem katholischen Musterglauben entspricht. Jetzt gibt es die Möglichkeit, dass es dazu Gegenstimmen aus den eigenen Reihen gibt, die seine Auslegung als falsch hinstellen, was letztlich nur dazu führen kann, dass die Auslegung in Relation zum Konsens der Kirche als haltbar oder nicht definiert werden muss. Aber diese Einstufung und die Konsequenzen daraus sind im Prinzip erstmal Interna der Kirche.
Dass die Kirche einen alleinigen Wahrheitsanspruch hat (wie ja im Übrigen die meisten der großen Religionen), ist bekannt und auf viele Ansichten zutreffend, die ich persönlich als unhaltbar ansehe, aber dann hat das für mich die Konsequenz, dass mich die Kirche am Arsch lecken kann. Die können gerne ihre Lehren verbreiten, die Tatsache, dass diese bei immer weniger Leuten Zuspruch finden, erledigt das Problem nach und nach ohnehin.

Was ich damit eigentlich sagen wollte ist, dass in solchen Diskussionen die Kirche immer als wichtige Instanz dargestellt wird, die im Falle solcher Aussagen groß zu kritisieren ist, er auf der anderen Seite aber im wissenschaftlichen Kontext keinerlei Stellenwert zugesprochen wird, da es ja eh unwissenschaftliche Spinner sind.
Ich bin kein Freund der Kirche, aber man sollte sich entscheiden, ob die Bedeutung solcher Aussagen eine ernstzunehmende Gewichtung haben oder nicht, und dann auch bitte in jedem Punkt solcher Diskussionen diesen Stellenwert mit einbeziehen.

Das Problem, das ich nämlich dahinter sehe ist, dass bei negativen Aussagen die Kirche als großer Buhmann hingestellt wird, auf der anderen Seite aber Politiker und vor allem die Medien in positiver klingenden Aussagen über (Leit-)Kultur etc. genau dieselben Vorstellungen nutzen. Wenn eine Diskussion über solche Themen, dann sollte man mal das ganze Problemgebiet einbeziehen, und das ist meiner Meinung nach weniger das des Glaubens, sondern vielmehr der Kultur, die sich immer dann, wenn sie Halt braucht, an die Religion anlehnt...

Lassen wir das (wie gesagt, unglücklich gewählte) Wort "entartet" mal außen vor, dann hat der Meisner gesagt, wie seiner Meinung nach Kunst und Kultur auszusehen hat. Hätte jetzt ein Intellektueller oder Feuilletonist etwas geschickter dieselbe Aussage gemacht, wäre da ganz anders darüber diskutiert worden. Ich sage nicht, dass es zwangsweise positiv aufgenommen worden wäre, aber es hätte eine andere Auseinandersetzung damit gegeben. Und das ist ganz einfach verlogen.
To01 - 17. Sep, 09:36

kunst war schon oft entartet, von diesen | jenen zumindest so tituliert; dabei spiegelt sie doch nur die menschen. das sollte die kirche eher erschrecken: sie verlieren uns.
T. Aschenlampe - 17. Sep, 11:55

Was wäre passiert, wenn Meisner nicht "entartet", sondern "fragwürdig" gesagt hätte?Nichts. Dass er vor ein paar Wochen das Richtersche Domfenster durch sein Fernbleiben adelte, rührte ja kaum jemanden wirklich. Da musste also noch mal was nachgelegt werden. Insofern, erstmal Respekt vor der kommunikativen Finte des Erzreaktionärs, auf die wir alle reinfallen, die wir uns jetzt mit seinen Ansichten auseinandersetzen.

Müssen wir das? Ja. Denn das mittlerweile ziemlich beunruhigende Wiedererstarken nationalistischer und religiöser Positionen, die man nun mit Fug und Recht als reaktionär bezeichnen darf, da sie tatsächlich Reaktionen darstellen, macht die Auseinandersetzung wohl dringend notwendig.

Dass Meisner sich die Kunst als Zielscheibe seiner rückwärts gewandten Kulturkritik vornimmt, ist dabei weder falsch noch ungeschickt. Tatsächlich kann man sich ja fragen, ob Kunst wirklich und auf Dauer als Religionsersatz taugt - mit dem modernen Kunstverständnis maßt sie sich das nicht nur an, sondern erfüllt tatsächlich exakt diese Funktion für viele, die sich heute produzierend, konsumierend oder kritisch mit ihr auseinandersetzen. Das Unwohlsein an der kapitalistischen Moderne mit ihrer zum Teil antihumanistischen und den Individualismus propagierenden Ideologie kommt nicht von ungefähr und wird von vielen, auch von mir, so empfunden.

Meisners Provokation wird vermutlich Früchte tragen, weil wir, die Verfechter einer Kultur, für die wir eigentlich keinen Namen haben (moderne, eigene, kapitalistische, säkulare, tolle, irgendwie?), auch keine Antwort darauf haben, wie mit diesem Unwohlsein ohne Flucht in Mystizismus oder Konsumismus umgegangen werden kann. Im Augenblick halten wir uns an der Vorstellung fest, dass die Antworten schon von alleine kommen werden, dass sich das allgemeine Sinndefizit individuell und im freien Austausch (also auf einem Markt) regulieren wird. Das kann man - wenn man etwas boshaft sein möchte - auch neoliberal nennen. Und damit aus meiner Perspektive als Teil des Problems bezeichnen, dem wir das aktuelle religiöse und nationalistische Rollback verdanken.

AiHua - 18. Sep, 10:56

Wenn ich das hier so lese fällt mir "der Verlust der Mitte ein". Heute noch gelesen, damals sogar Schulstoff und das bei einer ziemlich braunen Socke, die sogar Berufsverbot hatte (aber natürlich nicht in München). Allerdings muss man sagen, dass "Der Verlust der Mitte" von Sedlmeyer nicht nationalistisch ist, eher den Versuch nach der nationalen Kunst die christliche zu finden. Beim Lesen hatte ich immer das Gefühl, dass er ganz persönlich seinen neuen Weg sucht.
T. Aschenlampe - 19. Sep, 11:46

Da ich im Moment wenig Zeit habe (weshalb ich mich auch zu einer simplen Zweitverwertung meines Kommentars (siehe taz von heute) entschloss), sorry -erst mal nur Dank für Deinen Hinweis auf Sedlmayr, den ich nicht kannte. Meisner hat ja wohl in seiner Rede auch auf ihn Bezug genommen ("... erstarrt der Kult im Ritualismus und die Kultur entartet. Sie verliert ihre Mitte.").
tinius - 22. Sep, 01:22

Hier habe ich eine - recht allein dastehende Reaktion zu ihm gefunden :
Lawlita

AiHua - 22. Sep, 01:26

Japp, habe auch schon im Internet die "Verwüstung" durch ihn verfolgt.

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